Algier I.
Kalte Stadt
Als das Dröhnen der Maschine nachließ, atmete er auf. Aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Es war kalt in der Kabine, von der Wärme Afrikas war nichts zu spüren. Wie schon in der Nacht zuvor hatte er kaum geschlafen, der Lärm aus dem Kesselraum war diabolisch, dazu der Wind, der Seegang und immer wieder sein störrischer Husten. Einen Schlaf, der dieses Wort verdiente, hatte er zum letzten Mal vor vier Tagen finden können, bevor er den Zug nach Marseille bestieg.
Er blieb in seiner Koje liegen, er wollte erst an Deck, wenn es hell wurde. Das Rumoren auf der Said, die Geräusche aus dem Laderaum, die Schritte, die Rufe drangen nur gedämpft zu ihm. Das Schiff wiegte sich kaum merklich, es war halb vier Uhr morgens. Aber er würde jetzt nicht mehr einschlafen. Die Gedanken an seine Frau und der Husten ließen ihn nicht los. Er konnte nur warten.
Sobald sich das erste graue Tageslicht hinter seiner Luke zeigte, stand er auf, zog sich an, wählte, verfroren wie er war, die Kleider, die er auch in England getragen hatte samt seinem Rhinozerosüberrock, den er gekauft hatte, um sich gegen den nassen Londoner Winter zu schützen. Als er vor die Kabinentür trat, drängten Männer laut rufend auf ihn zu, die vom Festland an Bord gekommen waren und sich in schwer verständlichem Französisch als Träger für sein Handgepäck anpriesen. Manche waren arabisch gekleidet, andere europäisch, aber die Armut war ihnen allen anzusehen. Nachdem er sich für einen der Helfer entschieden hatte, wandten sich die übrigen wortlos ab, um nach anderen Passagieren Ausschau zu halten, die ihre Dienste benötigen könnten.
Er hob den Blick und sah jenseits der Reling das Häusermeer Algiers die steile Küste hinaufsteigen. Schon der Uferboulevard, das Prunkstück der Stadt, an dem sich die Renommierbauten reihten, lag erheblich höher als der Strand und war vom Hafen aus nur über Treppen oder eine lange Rampe zu erreichen. Das Häusergewirr dahinter dämmerte noch unter einem feinen Dunstschleier. Keine Kuppeln oder Türme waren auszumachen, nur verschachtelte, kreideweißer Kästen schoben sich ineinander wie ein Häufen Bauklötze, alle flach, nirgends ein Spitzdach, meist auch ohne Fenster, sondern nur mit vergitterten Löchern in den Mauern. Im diesigen Morgenlicht wirkte der obere Teil der Stadt wie ein Kalkfelsen, wie ein riesiger, von wenig Palmengrün belebter Steinbruch, über dem am höchsten Punkt die Kasbah thronte, die alte Zitadelle. Algier, die weiße Stadt. Darüber breitete sich der Schattenriss eines mächtigen Höhenzugs aus. Auf den höchsten Gipfeln waren schmutzigweiße Flecken zu sehen, dort schien Schnee zu liegen.
Im Durcheinander auf Deck entdeckte er Lieutenant Macé, den Kommandanten der Said, der Frau und Kind mit an Bord hatte. Während der Überfahrt waren sie miteinander ins Gespräch gekommen, er mochte den Kapitän, also ging er auf ihn zu, um sich mit ein paar Worten zu verabschieden. Dann folgte er seinem Träger zum Fallreep. Der Tiefgang der Said war zu groß, als dass sie direkt am Kai hätte anlegen können. Barken mit Ruderern umschwärmten das Schiff, übernahmen Ladung, Gepäck oder Fahrgäste und setzten sie ans Ufer über.
Die Schiffstreppe war steil und feucht. Er griff zu dem Tau, das an der Bordwand hinablief. Von unten sah ihm der Ruderer entgegen, vor ihm tänzelte der Mann mit seinen Taschen hinunter, verstaute sie rasch in dem schwankenden Kahn, fasste dann nach seiner Hand und gab ihm Halt, als der heikle Schritt von der letzten Stufe ins Boot fällig wurde. Im Grunde war der Aufwand lächerlich, die beiden Männer brauchten nur ein paar dutzend Ruderschläge, schon konnten sie vor dem Zollhaus festmachen, Taschen und Gast an Land setzen und die verdienten Münzen in Empfang nehmen.
Wieder drängten rufende und gestikulierende Männer auf ihn zu, die sich anboten, ihm beim Zoll behilflich zu sein und sein Gepäck die langen Treppen hinauf zur Promenade und in die Stadt zu bringen, zu seinem Hotel. Aber zu welchem Hotel?
Darüber hatte er sich wenig Gedanken gemacht. Er hatte auf andere Weise vorgesorgt, besser: vorsorgen lassen. Inmitten des Gewühls am Kai sprach ihn ein Franzose an und stellte sich vor, Marie-Leopold-Albert Fermé. Der Mann war nicht mehr jung, gut vierzig Jahre alt, und hieß ihn mit Respekt und ein wenig Scheu willkommen.
Fermé kümmerte sich um alles Weitere. Er wählte einen der Gepäckträger aus, nannte ihm den Namen eines Hotels und ermahnte den Mann, nicht nur die Taschen des Gastes dorthin zu bringen, sondern später auch dessen Koffer, sobald der an Land gebracht worden sei. Dann nickte er den Zöllnern zu, die ihn grüßten und ihre Blicke flüchtig über seinen Begleiter wandern ließen, es aber nicht für nötig hielten, nach dessen Papieren zu fragen. Hinter dem Zollhaus standen leichte Kutschen bereit für die Fahrt in die Stadt, aber Fermé steuerte auf die Freitreppe zu, die auf den Uferboulevard hinaufführte.
(...)
Fermé schien tatsächlich in keiner Weise eilig zu haben, wofür er ihm dankbar war, die Treppe machte ihm zu schaffen. Andere Passagiere und einige Träger, die erstaunlich große Lasten geschultert hatten, stiegen an ihnen vorüber. Aber Fermé zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld.
Als sie den Boulevard erreichten, wandte sich Fermé erst einmal zum Hafen zurück und wies ihn auf die Aussicht hin. Gern drehte auch er sich zum Meer, froh, für einen Moment stehen bleiben und den Atem beruhigen zu können. Das Panorama war trotz des trüben Wetters beeindruckend. Algier lag in einer weit ausschwingenden Bucht, die Uferlinie bildete eine sanfte, gleichmäßige Kurve, die im Westen und Osten jeweils in einem vorspringenden Cap endete. Wer immer diese Stadt gegründet hatte, er hatte Sinn für landschaftliche Harmonie besessen.
Die Stadt war, abseits vom Hafen, noch nicht ganz erwacht. Fermé führte ihn über den leeren Boulevard und die Schienen der Pferdebahn auf einen der Renommierbauten zu. Die Fassaden erinnerten an die Häuserfronten entlang der neu errichteten Pariser Boulevards, es waren die gleichen hohen Fenster, die gleichen schmiedeeisernen Balkongitter. Der Hoteleingang lag unter Arkaden und verriet den Ehrgeiz des Grand Hôtel d’Orient, zu den ersten Häusern der Stadt zu zählen. Es war eingerichtet in einem üppigem, leicht orientalisiertem Stil, der Hof mit schwarzem und weißem Marmor getäfelt.
Der Pomp der Räume machte ihm umso mehr bewusst, wie zerschlagen und müde er sich fühlte. Fermé hatte für ihn reserviert. Papiere brauchte er auch hier nicht, der Concierge überreichte ihm umstandslos den Schlüssel. Er dankte Fermé und verabredete sich mit ihm für den Nachmittag. Bevor er die Treppe, schon wieder eine Treppe, zu seinem Zimmer heraufstieg, bat er den Concierge noch darum, in seinem Namen ein Telegramm auf den Weg zu bringen, an Frederick Engels, Esq. 122 Regent’s Park Road, Londres N.W. Angleterre, die Überfahrt läge hinter ihm, er sei sicher in Algier angekommen.
Wie gern hätte er ein paar Stunden geschlafen, aber sein Husten gab keine Ruhe ebenso wie die Erinnerungen an seine Frau. Ihre Stimme aus dem Nebenraum, die immer schwächer wurde, die allmählich erlosch. Sie waren nur ein paar Schritte von einander entfernt, und doch war der Weg zu weit, er konnte sie nicht erreichen.
(...)