Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur?
Luchterhand Literaturverlag, München 1995
Aus dem Vorwort:
Ab in die Nische? Über die neueste deutsche Literatur und was sie vom Publikum trennt
Die jüngere deutsche Literatur hat das Publikum verloren. Man kann das bedauern oder so gut es geht bagatellisieren – doch bezweifeln kann man sie nicht. Seit über zehn Jahren sehen sich fast alle Autoren deutscher Sprache, die ihren vierzigsten Geburtstag noch vor sich haben und deshalb gern jung genannt werden, mit einer schmerzlichen Tatsache konfrontiert: Von einem kleinen Kreis Eingeweihter abgesehen, interessiert sich für ihre Arbeit kein Mensch.
Das klingt böse, ich weiß. Aber das ist gut so, denn es sind böse Fakten, um die es hier geht. Seit Beginn der achtziger Jahre werden von einem Prosaband eines ernstzunehmenden Nachwuchsautors selten mehr als fünfzehnhundert Exemplare verkauft. Finden sich zweitausend Abnehmer, gilt das Buch als Erfolg. Sind es dreitausend, geraten Verleger und Lektoren in Verzückung wie fündige Goldgräber. Natürlich betrifft das nicht nur Romane oder Erzählungen. Im Gegenteil: Gedichte, Essays oder Theatertexte haben noch schlechtere Aussichten, annehmbare Auflagen zu erzielen.
Noch vor zwanzig Jahren, so erinnern sich glaubwürdige Veteranen des Branche, konnten Debütanten mit drei- bis fünfmal höheren Verkaufszahlen rechnen. Inzwischen scheint die Talfahrt zum Stillstand gekommen zu sein. Zumindest waren deutliche Rückgänge während der jüngst vergangenen Buchmesse nicht mehr festzustellen. Aber dies vielleicht nur deshalb, weil – wie ein Verleger anmerkte – es schwierig sein dürfte, derart niedrige Verkaufszahlen noch zu unterschreiten.
Das ganze Ausmaß des Desasters wird sichtbar, sobald man sich ein paar Vergleichsgrößen vor Augen stellt. Um einen der vorderen Plätze auf der Bestsellerliste zu erreichen, müssen von einem Titel rund fünf- bis sechshundert Exemplare pro Tag an die Leser gebracht werden. Das ist viel, trotzdem gelingt es Woche für Woche etlichen Büchern, denn schließlich gibt es einhundert Millionen Menschen, die das Deutsche ihre Muttersprache nennen. Jedoch nur ein- oder zweihundertstel Promille von ihnen lassen sich gegenwärtig für den Roman eines literarischen Newcomers gewinnen; in einer Großstadt wie Frankfurt also acht bis zehn – und das nicht pro Tag, sondern während der gesamten Jahre, in denen es lieferbar ist. Dieser Anteil ist so gering, daß er, bezifferte er den Blutalkohohlwert eines Autofahrers, nicht nur von keinem Polizeibeamten beanstandet würde, sondern kaum noch nachweisbar wäre. Wir können also – um im Bild zu bleiben – ziemlich sicher sein, daß unsere Gesellschaft durch die Werke ihrer jüngeren Dichter nicht so bald trunken werden wird.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich an zwei Selbstverständlichkeiten erinnern. Erstens: Diese tristen Tatsachen geben keinerlei Anlaß zur Häme. Schriftsteller sind alles andere als glücklich, wenn ihre Bücher eine sehr überschaubare Zahl von Käufern finden. Sie leiden, auch wenn sie es sich und anderen nicht eingestehen, vermutlich am meisten darunter und haben Spott nicht verdient. Zweitens: Ob das Publikum einem Autor seine Texte aus der Hand reißt, oder ob es sie mißachtet, sagt nichts, aber auch gar nichts über deren Qualität. Die Anekdoten über vortreffliche Werke, die sich als Ladenhüter erwiesen, sind ungezählt und wohlbekannt – sie müssen hier nicht noch einmal erzählt werden.
Der beklagenswerte Zustand, von dem die Rede ist, belegt nüchtern betrachtet nur eins: Zwischen denen, die schreiben wollen und denen, die lesen wollen, hat sich eine Kluft aufgetan, über die hinweg Verständigung immer schwieriger wird und immer seltener gelingt. Es ist wie bei einem altgestrittenen Ehepaar: Der eine redet noch, doch der andere hört schon lange nicht mehr zu. Natürlich darf sich ein Autor in der Rolle eines Rufers in der Wüste gefallen – aber kann sich das eine ganze Autorengeneration leisten? Da die Schriftsteller mit Sprache arbeiten, dem menschlichen Verständigungsmittel par excellence, ist es, milde formuliert, ein bedenkliches Symptom, wenn niemand mehr auf der Wellenlänge empfängt, auf der sie senden.
Das war nicht immer so. Von jenen Autoren, die in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Karriere begannen, wurden einige sehr schnell, manche deutlich vor ihren vierzigsten Geburtstag, zu zentralen Gestalten des deutschsprachigen Literaturbetriebs: Dazu gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Böll, Dürrenmatt, Ilse Aichinger, Arno Schmidt, Lenz, Grass, Frisch, Johnson, Peter Weiss, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard; zu den jüngsten dieser Großen zählen die 1929 geborenen Kunert, Enzensberger, Rühmkorf, Christa Wolf und Heiner Müller; und als Nachzügler schließlich Peter Handke. Sie sind bis heute bestimmend für das Profil unserer Nachkriegsliteratur und immerhin so populär, daß selbst Nicht-Leser mit ihren Namen etwas anzufangen wissen (was im übrigen – auch das eine Platitüde – nichts über die Qualität ihrer Arbeit sagt). Acht von ihnen sind allerdings schon tot, und alle anderen, mit der Ausnahme Handkes, haben das sechzigste Lebensjahr geraume Zeit hinter sich.
So ist es wohl nicht verfrüht, sich nach dem Befinden des Nachwuchses zu erkundigen. Doch von denen, die in den siebziger und achtziger Jahren ihre literarische Arbeit begannen, kann man heute nur einen einigermaßen unumstritten zum ersten Rang der deutschsprachigen Literatur zählen: Botho Strauß. Natürlich haben neben ihm viele gute Schriftsteller viele gute Bücher geschrieben. Aber denen war eben nicht vergönnt, was gemeinhin der Durchbruch genannt wird, und besser als ein Ausbruch bezeichnet würde – einen Ausbruch aus dem esoterischen Zirkel der Kenner und Connaisseurs.
Natürlich ist, um das noch einmal zu betonen, Erfolg kein literarisches Gütesiegel. Aber Mißerfolg auch nicht, soviel steht fest. Die Epochen der Literaturgeschichte kannten in aller Regel beides, Publikumslieblinge und Mauerblümchen – und meist waren Talent und Unfähigkeit in beiden Lager anzutreffen. Wenn nun aber die einen über zehn, zwanzig Jahre ganz ausbleiben, wird es Zeit, sich Gedanken über die Gründe zu machen.
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„Die deutsche Gegenwartsliteratur gilt im Ausland als schwierig, humorlos, langweilig. Uwe Wittstock hat der Frage ‚Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur?’ ein Buch gewidmet und belegt darin, dass gerade die großen unter den Schriftstellern, was Volksbelustigung anging, nicht zimperlich waren.“ Der Spiegel
„Dem Befund Uwe Wittstocks: ‚Die jüngere deutsche Literatur hat das Publikum verloren’, ist nicht zu widersprechen. In der Konkurrenz mit einer Vielzahl anderer Medien, schreibt Wittstock, habe die neueste deutsche Literatur diese Gegner nicht ernst genommen und gegen sie eben nicht ihre spezifischen Reize, nämlich den Kunstverstand aus Intelligenz, Phantasie und Witz ausgespielt. Es mache einfach zu wenig ‚Vergnügen’, diese Bücher zu lesen, ‚unterhaltsam’ seien sie durchwegs nicht.“ Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau
„Wittstock ist einer der Querdenker in der deutschen Literaturkritik. Seine hier vorgelegten Analysen, zu denen auch überzeugende Studien zu von ihm geschätzten Romanciers wie Sten Nadolny und Ulrich Woelk zählen, sind die Lektüre wert und stehen dem amerikanischen Critisism mit seiner fairness und seinem common sens näher als das meiste, das wir aus den Federn seiner deutschsprachigen Kollegen und Kolleginnen kennen.“ Paul Michael Lützeler, The German Quarterly
„1993 wagte Uwe Wittstock, damals Lektor für deutsche Literatur beim S.Fischer Verlag, es offen auszusprechen: ‚Die jüngste deutsche Literatur hat das Publikum verloren.’ Und er plädierte für mehr Unterhaltungswert. Natürlich raste sofort die Literaturpolizei mit Blaulicht durch die Feuilletons, um den Delinquenten zu verhaften. Doch es nützte nichts. Nun war die bittere Wahrheit in der Welt und wollte nicht mehr verschwinden.“ Sven Boedecher, Die Woche, 29. Sept. 2000