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Uwe Wittstock
Die Büchersäufer

Streifzüge durch den Literaturbetrieb

Ein warnendes Vorwort:

Den Betroffenen ist es auf den ersten Blick nicht anzusehen. Sie gehen ihren beruflichen oder familiären Verpflichtungen nach wie andere Menschen auch, sie gelten als zuverlässig, gut informiert und verantwortungsbewußt. Doch in ihrer Freizeit offenbaren sie ein anderes Gesicht, die Sucht ergreift Besitz von ihnen. Sie ziehen sich aus der Realität zurück, verbergen sich hinter aufgeschlagenen Druckwerken und verfallen über Stunden in Schweigen und eine nahezu bewegungsloses Starre. “Du kannst hingehen zu einem”, berichtet Rainer Maria Rilke, ein anerkannter Kenner derartiger Praktiken, “und ihn leise anrühren: er fühlt nichts.” Selbst für ihre nächsten Angehörigen sind die Betroffenen in diesem Zustand unansprechbar. Sie geben die Verbindung zu Zeit und Raum auf und verlieren sich in eine andere, eine ungreifbare Welt: Man nennt sie die Literaturabhängigen oder auch die Büchersäufer.

Die Geschichte der Lesesucht läßt sich über Jahrtausende zurückverfolgen. Sie ist augenscheinlich unausrottbar, in allen heute bekannten Kulturen seit Erfindung der Schrift und des Buchdrucks fielen ihr Menschen aller Lebensalter und sozialen Schichten anheim. “Wer sich beständig ausschlußweise mit den Büchern beschäftigt”, schrieb der deutsche Aufklärer Johann Gottfried Seume, dem das Laster der Lektüre wohlvertraut war, “ist für das praktische Leben schon halb verloren.” Damals, im 18. Jahrhundert, wurde von verantwortungsbewußten Menschen noch vielstimmig vor den verderblichen Auswirkungen der Bücherbesessenheit gewarnt. Heute dagegen hat das einschlägige Milieu geschickt ein so weitverzweigtes Netzwerk quer durch unsere Gesellschaft gesponnen, daß die Literaturabhängigen, ohne öffentlichen Widerspruch zu ernten, sogar Suchtstoffarchive, sogenannte Bibliotheken, unterhalten können, im Fernsehen eigene Drogenberatungssendungen mit dem bezeichnend autoritären Titel “Lesen!” betreiben und sogar über eine Stiftung gleichen Namens verfügen, die erklärtermaßen kein anderes Ziel kennt, als die Jugend mit ihrer Gier zu infizieren. Wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen: Es hat sich mittlerweile eine Parallelgesellschaft von gewohnheitsmäßigen Textkonsumenten entwickelt, die über ein gut funktionierendes System von Bücher-Umschlagplätzen verfügt, an dem sie sich regelmäßig und nahezu ungehindert ihre dringend benötigte Lektüredosis beschaffen können.

Der Substitutions- beziehungsweise Sublimations-Charakter des Lesens ist offenkundig. Es bietet eingefleischten Büchersäufern die emotionalen Auf- und Abschwünge des realen Lebens ohne dessen Risiken. Frauen, die sich in ihrer Ehe vernachlässigt fühlen, die Unwägbarkeiten eines Seitensprungs aber fürchten, greifen zu Flauberts Madame Bovary oder Fontanes Effi Briest. Männer, die von Weltherrschaft träumen, sich jedoch scheuen, die Mühen der damit üblicherweise verbundenen Massenmorde auf sich zu nehmen, vertiefen sich in Biographien Cäsars oder Napoleons. Kinder aller Altersstufen, die sich in der Außenwelt von dämonischen Kräften umgeben glauben, vor den Dämonen ihrer Innenwelt aber lieber die Augen schließen, geben sich an der Seite Harry Potters einem gänzlich gefahr- und anstrengungslosen Kampf gegen die dunklen Künste hin.

Weltflucht ist, auch wenn die meisten Bücherabhängigen es nicht wahrhaben wollen, einer ihrer Wesenszüge. “Eskapismus, ruft ihr mir zu, vorwurfsvoll”, schreibt der in der entsprechenden Subkultur hingebungsvoll verehrte Suchtstoff-Produzent Hans Magnus Enzensberger: “Was denn sonst, antworte ich, bei diesem Sauwetter!” Merkwürdigerweise läßt sich bei Lektürejunkies dennoch eine gesteigerte Realitätstauglichkeit feststellen. Selbst in schweren Fällen scheint die während des Lesevorgangs eingeübte Haltung einer reflektierten Distanziertheit und die Einfühlung in die seelischen Prozesse anderer zu einer vergrößerten Souveränität und Sensibilität der Betroffenen zu führen. Hinzu kommt ein ganz überraschendes Wachstum an Weltkenntnis, das sich bei den lustbetonten Romankonsumenten eher unter der Hand vollzieht, bei den Fach- und Sachbuch-Abhängigen dagegen gezielt vorangetrieben wird. In anderen Untersuchungen wurde bei notorischen Readaholics ein Zuwachs an Konzentrationsfähigkeit nachgewiesen und eine Steigerung ihres Bewußtseins für das verwirrende Netz kultureller und historischer Zusammenhänge.

Gleichwohl ist selbstverständlich vor exzessivem Textgenuß nachdrücklich zu warnen. Der vorliegende Band möchte mit einigen Streifzügen durch das Milieu bekennender Büchersäufer – dem von Experten sogenannten Literaturbetrieb – den Blick für die Gefahren der Lesesucht schärfen. Es liegt auf der Hand, daß ein so besorgniserregendes, aber gleichwohl weit verbreitetes Phänomen wie der Lektüremißbrauch nicht in einer einzigen Untersuchung umfassend und hinreichend anzuhandeln ist. Diese Studie bildet da selbstverständlich keine Ausnahme und nimmt keineswegs für sich in Anspruch, das tragische Schicksal der Literaturabhängigen umfassend darstellen zu können. Sie will lediglich einige subjektive Erfahrungen im Umgang mit Menschen zusammenstellen, die gewohnheitsmäßiger Lektüre verfallen sind, im Umgang mit ihren professionellen Dealern und – ja es sei eingestanden – auch im Umgang mit der Droge selbst.

„Uwe Wittstock nimmt die Buchbranche hintersinnig und amüsant unter die Lupe. Eine keinesfalls nur für Büchernarren empfehlenswerte Lektüre.“ KNV aktuell